Soylent-Flüssignahrung: Die Freiheit, nicht ans Essen zu denken
Essen kann herrlich sein - aber auch Stress. Wie schmeckt es, ist es gesund, macht es dick, unter welchen Bedingungen wurde es produziert? Habe ich Lust darauf und Zeit für die Zubereitung? Diese Fragen muss sich Frank Lachmann nicht mehr stellen. Er ernährt sich von Pulver.
Bevor Frank Lachmann aufhören konnte, sich mit dem Thema Essen zu beschäftigen, musste er sich so intensiv wie nie zuvor darum kümmern. Wochenlang stand der 40-Jährige, der in Berlin lebt und als Online-Kommunikator für eine Konzertagentur arbeitet, mit zwei Gleichgesinnten in einer Küche. Die beiden Männer hatte er im Netz ausfindig gemacht - ebenso wie die verschiedenen Pulver, die sie nun abmaßen und mischten, wie sie es im Internet gelernt hatten.
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Den fertigen Pulvermix gossen die drei mit Wasser auf, tranken ihn und warteten, was mit ihrem Körper passieren würde. Würden sie satt werden? Würden sie Durchfall bekommen? Und wenn ja, von welchem Pulver musste mehr oder weniger in die Mischung, damit der nächste Versuch zufriedenstellender enden würde? Wenn sie Erfolg hätten, würden sie sich keine Gedanken mehr über das Essen machen müssen. Sie würden Pulver trinken, satt sein - und Kontrolle haben. Kontrolle über Kalorien, über Hunger und vor allem über die millionenfachen Geschmacksangebote, vor die die Lebensmittelindustrie ihre Verbraucher jeden Tag stellt.
"Essen war eine riesige Bürde"
Doch vor der Kontrolle und der neuen Freiheit standen die Küchen-Experimente mit dem Pulver aus dem Netz. Die Ergebnisse hielt Frank in einer Excel-Tabelle fest. Sie wächst bis heute stetig weiter. Aus ihr entstand die Art von Ernährung, die Frank seit fast drei Jahren begleitet. Sie trägt einen Namen aus der Literatur und einem Science-Fiction-Film: Soylent.
Laut Lachmann ist Soylent zweierlei: zum einen der Oberbegriff für Pulvernahrung, die mit Wasser angerührt wird und dem Körper über den Tag verteilt alle Kalorien und Nährstoffe liefert, die er für das Überleben braucht. Soylent steht aber auch für das erste Pulver dieser Art, erfunden vom Programmierer Rob Rhinehart im Jahr 2013.
Rhineharts Ziel war es, sich mit einem Pulvermix unabhängig zu machen vom Einkaufen, Bevorraten und Zubereiten von Nahrung. All das kostete ihn zu viel seiner kostbaren Zeit und war mit dem Risiko behaftet, nicht im Detail kontrollieren zu können, ob der Körper auch alle wichtigen Nährstoffe erhält, die er braucht. "Essen war eine riesige Bürde", sagte er 2014 dem Magazin New Yorker. Und auch Lachmann findet: "Soylent war eine Befreiung."
Rhinehart schrieb seine Experimente auf einem Blog nieder und legte dort die jeweiligen Mischungsverhältnisse seiner Pulvercocktails offen. Seine Open-Source-Rezepte enthielten stets jene Bausteine, die der menschliche Körper zum Überleben benötigt: Kohlehydrate, Fett, Eiweiß, Vitamine und Mineralstoffe. Nur kamen die nicht mehr als Äpfel oder Pizza auf den Tisch, sondern als Pulver-Shakes. Mit dieser Vereinfachung seiner Nahrungsbeschaffung und -aufnahme traf Rhinehart den Nerv einer großen Gruppe von Menschen.
Mehr Zeit vor dem Rechner
Das Unternehmen, das Rhinehart gründete, um seine Pulver-Shakes zu verkaufen, ist profitabel. 2014 erwirtschaftete es laut dem Wirtschaftsmagazin Inc.com zehn Millionen US-Dollar Umsatz. Das erregte das Interesse von Investoren. 2015 investierte das Risikokapital-Unternehmen Andreessen Horowitz 20 Millionen US-Dollar in Rhineharts Pulver.
Da das Unternehmen normalerweise Technologie-Startups finanziert, verbirgt sich in der Finanzierung von Soylent ein Hinweis auf die Community, die das Pulver anspricht: Menschen, die das Thema Essen ein für alle Mal abhaken wollen. Weil es sie überfordert und weil sie ihre Zeit anders nutzen wollen. Um vorm Rechner zu sitzen, zum Beispiel. "Ich verschwende nicht mehr eine halbe Stunde meiner Mittagspause mit der Zubereitung von Essen. Stattdessen hab ich Zeit fürs Internet", schreibt ein Soylent-Nutzer auf Reddit.
Was steckt hinter dem Wunsch, den täglichen Hunger nur noch mit Hilfe von ein paar Hundert Gramm Pulver und einem Liter Wasser zu stillen?
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